Mudflows oder Megatsunami: Entstand der Balaton durch späteiszeitiche Schlammfluten?

Von Michael Hahl

 

Ich beginne meine landschaftskundlichen Betrachtungen im Weblog "Zala|Land - Geographie, Naturschätze und das Erbe der Landschaft" mit einer interessanten Forschungsarbeit des ukrainischen Geographen und Geoarchäologen Wasyl G. Pazynych (Василь Григорович Пазинич), geboren 1950 in Kiew, zur Zeit der Sowjetunion. Seine Forschung zur Entstehung des Balatons - womit er seiner Arbeit eine gewisse Popularität verleiht - trägt er in einer Publikation aus dem Jahr 2011 zusammen, zusätzliche Ergänzungen erfolgen ab 2014. 

Diese Forschungarbeit beleuchtet die landschaftsgestaltende Dynamik von spät- und nacheiszeitlichen Schlammfluten besonders im ungarischen Teil des Karpatenbeckens zwischen den Hochgebirgen Alpen und Karpaten. In meiner Bearbeitung greife ich vor allem diejenigen Aspekte der Forschung Pazynychs auf, welche unmittelbar die Entstehung des Balatons und Einwirkungen in das Zalaer Hügelland betreffen. 

Meinen Artikel unterteile ich in vier Abschnitte und stelle nachfolgend zunächst Pazynychs 2011 publiziertes Modell späteiszeitlicher Schlammfluten östlich der Alpen vor, um im zweiten Teil auf eine späterhin aufgekommene "Megatsunami-These" einzugehen, welcher Pazynych ein aktualisiertes Vorwort widmet. Sodann schwenkt mein Fokus kurz zu einer notwendigen Überlegung bezüglich noch früherer pleistozäner (eiszeitlicher) Dynamiken im Pannonischen Becken (Karpatenbecken), ehe ich mit Василь Пазинич einen abschließenden geoarchäologischen Blick in die steinzeitliche Kulturgeschichte werfe, welcher sich um Finnen, Magyaren (Ungarn) und sehr viel Wasser dreht.  


Teil 1 - Hochenergetische späteiszeitliche Schlammfluten im Pannonischen Becken zwischen Alpen und Karpaten 

Pazynych bringt den Ursprung des Balatons sowie einiger der Oberflächenformen seiner Umgebung mit einem gigantischen Spätwürm-eiszeitlichen Schlammstrom bzw. einer stark wassergesättigten und auf ihrem Weg alles mitreißenden Schlammflut in Zusammenhang. Er verwendet teils den Begriff "Wasser-Eis-Schnee- und Schlammströme", teils gebraucht er den international üblichen Fachterminus mudflows. Würm-Kaltzeit lautet der Name der letzten pleistozänen Kaltzeit im Umfeld der alpidischen Hochgebirge. Zu den Begriffen Schlammstrom und Schlammflut will ich zunächst einige Erläuterungen aus der "geographischen Schatzkiste" einpflegen: 

Ein Schlammstrom kann mit einem riesigen Gletscherabbruch im Hochgebirge einhergehen, mitunter verschärft durch Wasserausbrüche an Endmoränenseen und ähnlichen Erscheinungen, die mit Gletschereis, Schneemassen und Wasser, Geröll und feineren Sedimenten sowie enormer gravitativer Energie zusammen hängen. Auch der Begriff Mure ist gebräuchlich, bezeichnet allerdings eher einen Strom, der am Hangfuß allmählich wieder endet. Wenn vulkanische Aktivität unter Gletscherüberdeckung und mit tuffitischen Lockersedimenten im Spiel ist, kann sich auch ein so genannter Lahar bilden, eine weitere Variation eines Schlammstroms. 

Liegt der Sedimentanteil einer solchen wassergesättigten Schlamm-, Eis- und Geröllmasse bei unter 20 %, spricht man von einer Schlammflut. Solche präzisen Einordnungen sind selbstverständlich eher etwas für die Theorie, und - Hand auf's Herz - kein Geomorphologe, Glaziologe, Vulkanologe etc. wird den Feststoffanteil eines dynamisch durch's Gelände preschenden mudflows exakt überprüfen. Zudem kann es sich schnell ändern, wenn eine Mure oder ein Schlammstrom beispielsweise ein Flussbett überrollt oder den wassergesättigten "active layer" der Auftauschicht von Permafrostböden mobilisiert, wodurch der Wassergehalt deutlich zunimmt und Reibung herabgesetzt wird. 

Diese Masse aus Gletschereis, Geröll, viel Wasser und schlammigen Sedimenten - vielleicht auch vulkanischen Tuffiten - stürzt nun zunächst brachial aus dem Hochgebirge herab und rollt, fließt oder strömt mit immens hohen Geschwindigkeiten, teils über 100 km/h, weiter über's Vorgebirge und oft noch meilenweit in Senken und Ebenen hinein. In weiträumigen späteiszeitlichen Ebenen mit Tundrenbewuchs und nur wenigen Buckeln, Bergen und Riedeln bleibt auf den gefrorenen oder in der Auftauschicht schlammigen Permafrostböden viel Raum und wenig Widerstand für rasant strömende wassergesättigte  Schlamm- und Geröllmassen. Solche Bedingungen sind für die ausgehende Würm-Kaltzeit im Pannonischen Becken östlich der Alpen und an den Rändern der Karpaten zu erwarten. 

Dieser Link zeigt eine rezente, also gegenwärtige, stark wassergesättigte Schlammflut, genau genommen in diesem Fall ein Lahar am indonesischen Vulkan Merapi, vermutlich eine Filmaufnahme aus dem Jahr 2010.

Gigantische wassergesättigte Schlammfluten oder Lahare aus Hochgebirgen oder hochgelegenen Vulkanen, können je nach Volumen und Geländeverhältnissen mitunter über Strecken von mehr als 100 Kilometern strömen (berichtet wird vereinzelt von bis zu 300 Kilometern, was natürlich von verschiedenen Faktoren wie Wassergehalt, Relief, Masse usw. abhängig ist). Da solche Ströme durchaus auch ein, zwei oder noch weitaus mehr Kilometer breit sein können, reißen sie alles mit, energetisch zusätzlich verstärkt durch metergroße Felsblöcke, die auf solchen mudflows quasi "mitschwimmen". 

Postglaziale und natürlich auch zwischeneiszeitliche (periglaziale) Schlammfluten konnten - oder können in den rezenten Periglazialgebieten - zu massiven Überschwemmungen führen, was besonders auf Permafrostböden weiträumiger Ebenen zu erwarten ist. Die hoch energetischen Ströme haben ein immens zerstörerisches respektive landschaftsgestaltendes Potenzial. Dabei sollte man im Hinterkopf behalten, welche enorme Energie in der Akkumulation von Gletschereis in den Gebirgen zwischengespeichert ist, die am Ende von Kaltzeiten zumindest teilweise wieder frei wird und durch Massenbewegung, Gravitation, Strömung usw. in den post- und periglazialen Landschaften wirkt. 
 
Bild: Pazynych V. G., 2011, Water-ice-snow and  mudflows in mountain areas on final stage of Wurm glaciations. Lake Balaton origin. (ukrainischer Titel: Водо-льодо-снігові та селеві потоки завершальної стадії вюрмського зледеніння гірських країн. Походження озера Балатон. / russischer Titel: Водно-ледово-снежные и селевые потоки завершающей стадии Вюрмского оледенения горных стран. Происхождение озера Балатон; Verwendung der Illustration zu wissenschaftlichen Zwecken; Bild-Quelle unten verlinkt)
 
Pazynych belegt und rekonstruiert in seinem Modell - mit zahlreichen Grafiken bzw. Dokumentationen, für die er auf GIS-gestützte 3D-Modellierungen zurückgreift - massive Schlammfluten, die im Untersuchungsgebiet aus den östlichen Alpen sowie aus den nördlichen Karpaten am Ende der letzten pleistozänen Kaltzeit (Würm) abgegangen und weit in die westungarische Beckenlandschaft hinein geströmt sind. Die erosive Wirkung solcher mudflows - einhergehend mit großflächigen Überschwemmungen - hatte natürlich Kerben, Rinnen oder generell Vertiefungen wie auch Akkumulationen von Sedimenten im Permafrost-Substrat der flachen Tundrenlandschaften zur Folge. Pazynych wertet die Einwirkung der Schlammflut am Ende der Würm-Kaltzeit als Initialisierung eines dann erst einmal weitaus größer als heute angelegten Plattensees (Balaton) südlich des bereits früher bestehenden Bakony-Berglandes mit Mittelgebirgscharakter. 
 
Im Prinzip können wir uns das heutige Erscheinungsbild des gegenwärtig etwa 79 km langen Balatons als Relikt oder "Überbleibsel" einer gigantischen nach- oder zwischeneiszeitlichen Überschwemmung vorstellen. Das heutige Flusssystem mit der sanft in den Kis-Balaton einmündenden Zala war in jenem postglazialen flussgeschichtlichen Zeitabschnitt noch lange nicht entstanden.

Pazynych (2011) zeigt in einem Geländemodell, wie er sich einen "Prä-Balaton" im Zeitraum der späteiszeitichen Schlammflut vorstellt. Dabei vermutet er für die modellierten mudflows Strecken von über 100 Kilometer, Strombreiten bis zu 10 Kilometer und "Tiefen" über 20 Meter (teils bis 60 Meter). Im Bereich des Balatons sei eine bereits früher angelegte, möglicherweise lithologisch bedingte Mulde erreicht und überschwemmt worden.
 
Bild: Pazynych V. G., 2011, Water-ice-snow and  mudflows in mountain areas on final stage of Wurm glaciations. Lake Balaton origin. (Verwendung zu wissenschaftlichen Zwecken; Bild-Quelle unten verlinkt)
 
Eine Strecke von den vergletscherten Ostalpen - sowie von Norden her - bis in den heutigen Bereich des Balatons wäre bei derart stark wassergesättigten Schlammfluten und reißenden Strömen grundsätzlich nachvollziehbar. So gesehen erscheint Wasyl Pazynychs mudflow-Theorie unter den zur Spätwürm-Zeit vorhandenen peri- und postglazialen Bedingungen geowissenschaftlich plausibel, wenngleich aufgrund der gewaltigen Ausmaße und der hierfür erforderlichen Energie heute für uns, die wir das Balaton-Gebiet als geodynamisch relativ unspektakuläre Kulturlandschaft erleben, nicht einfach vorstellbar. Unser subjektiv begreifbarer Maßstab ist einfach ein anderer, sofern wir solche gigantischen Phänomene nicht selbst beispielsweise in den Anden, im Himalaya oder in anderen gegenwärtigen Periglazialgebieten beobachten konnten. Alpine Muren treffen sicherlich auch die wenigsten alpinen Wanderer an. Umso mehr kann die rekonstruierte Landschaftsgeschichte im heute sanften Karpatenbecken dazu dienen, unseren Blick auf geodynamische Ereignisse zu schärfen und unsere Sinne für die Wirkkraft glazialer und geomorphologischer Prozesse sowie klimatischer Schwankungen - unter Einbeziehung des Faktors "geologische Zeit" - zu sensibilisieren

Die Einwirkung einer solchen gigantischen Schlammflut aus den Alpen sowie aus den Karpaten in die damalige Beckenlandschaft war zweifellos "reißerisch". Der bereits früher angelegte Formenschatz wurde hierdurch weiter überformt. So identifiziert Wasyl Pazynych in den langgezogenen Höhenzügen (Riedel) des Zalaer Hügellands auch vereinzelte "Durchgänge", die er als Überströmen und Durchbrechen durch die hochenergetischen mudflows interpretiert. Kleinere Durchbrüche sind im Hügelland Zalas heute noch erkennbar (siehe Abbildung oben mit Bildunterschrift "flow directions"), sie markieren noch den Weg, den die späteiszeitlichen Schlammfluten mit ihren reißenden Wasser-, Sediment- und Geröllmassen zum jetzigen Balatongebiet und räumlich noch darüber hinaus offenbar zurück gelegt haben. Die Ergebnisse Pazynychs bieten demnach auch für die Erforschung des Formenschatzes der Riedel und Mulden im Zalaer Hügelland eine interessante Ergänzung, worauf ich in einer späteren Betrachtung noch einmal zurückkommen möchte. 
 
Bild: Links nochmals ein Auszug aus Pazynych 2001, der die Fließrichtung der mudflows zeigt; im Vergleich mit einer Aufnahme aus GoogleMaps, rechts: Einige Straßen folgen heute offenkundig den durch Spätwürm-zeitliche Schlammfluten angelegten Durchbrüchen südwestlich und nordöstlich des gegenwärtigen Balatons. 
 
 
Teil 2 - These: Gab es einen Mega-Tsunami? 

Eine noch etwas detailliertere Beschäftigung mit der Arbeit Pazynychs folgt zu gegebener Zeit. Es geht in seinen Überlegungen grundlegend darum, dass die Formung der Oberflächengestalt und somit die Genese der Landschaften wie etwa im Pannonisches Becken nicht allein durch tektonische Hebungen und Senkungen, Meeresspiegelschwankung usw. zu erklären ist, sondern stärker im Kontext spät und nacheiszeitlicher Prozessdynamik, Massenbewegungen, Strömungen, und Wechselwirkungen verstanden werden kann. Pazynych: "In dem Artikel basiert die Erforschung der postglazialen Phänomene auf der Unterteilung der Eiszeiten in zwei Phasen - die Phase der Akkumulation von Eis und potentieller Energie und die Phase ihrer Freisetzung. Die erste Phase entspricht der Bildung der Eisdecke, die zweite ihrer Ablation." (übersetzt vom Verfasser, Quelle ist nachfolgend verlinkt)

An dieser Stelle integriere ich zunächst den Link zu Pazynychs Publikation aus dem Jahr  2011, abrufbar unter dem Kurztitel Lake Balaton origin - fresh glance. In der Publikation befinden sich auch einige teils "selbsterklärende" Illustrationen und 3D-Modellierungen zu seiner "mudflow-Theorie" für die Region rund um den Balaton und weiteren Lokalitäten im Pannonischen Becken. Wobei die darin nachgewiesenen Schlammfluten nicht nur die Alpen und deren benachbarte Beckenlandschaft betreffen, sondern natürlich ebenso die Karpaten; hierzu forschte Pazynych zuvor schon zu den westukrainischen Karpaten-Randgebieten, Transkarpatien genannt. 

Das eindrucksvolle Geländemodell unter diesem Link zeigt - schön reliefiert, allerdings stark überhöht - das von Gebirgszügen umschlossene Pannonische Becken und verdeutlicht die geographische Lage von Westungarn zwischen Karpaten, Alpen und Dinarischem Gebirge (zu erkennen ist der Balaton als Orientierungsmarke). 

Einige Jahre nach der 2011 erschienenen Publikation erfolgte eine Neubetrachtung seiner Arbeit mit einem von ihm sukzessive weiter aktualisierten Vorwort und Ergänzungen im Text: Pazynych 2014. Dieses neue Vorwort wurde von Pazynych wohl noch bis ins Jahr 2020 aktualisiert und einem späteren Forschungsstand angepasst, zumal er darin nun auch Bezug auf offenbar erst zu dieser Zeit vorliegende Forschungsergebnisse nimmt.

Aus neueren Untersuchungen, Auswertungen vorhandener Forschung und Modellierungen ergeben sich Hinweise auf einen im betreffenden Gebiet zumindest potenziell möglichen "Mega-Tsunami", vielleicht für die ausgehende Würm-Kaltzeit. Ein solches Modell regt natürlich zu erheblichen Neubetrachtungen der gesamten späteiszeitlichen Situation nicht nur für das Becken zwischen Alpen und Karpaten an. Doch eine genauere Klärung dieser "Megatsunami-These" bleibt zukünftigen Forschungen vorbehalten. 

Somit muss zu einem späteren Forschungsstand das von Pazynych entwickelte Bild der gigantischen Schlammfluten vielleicht abermals überarbeitet werden, falls man Spuren und Hinweise auf einen spätglazialen Tsunami konkreter einbeziehen kann. So weit ist die geomorphologische Forschung zum aktuellen Stand meiner Kenntnis nach allerdings noch nicht; so können wir es zunächst einmal beim späteiszeitlichen Schlammflut-Modell für Pannonisches Becken und Balaton-Genese belassen. 
 
 
Teil 3 - Schwankendes Klima - dynamische Gletscher: Immer wieder Wandel zwischen Wärmeperioden und Kältephasen
 
An dieser Stelle noch eine ergänzende Anmerkung zur Balaton-Genese: Hierzu deutet ja Pazynych selbst schon an (2011), dass eine Mulde in diesem Gebiet bereits vor der späteiszeitlichen Schlammflut-Dynamik vorhanden gewesen sei, vermutlich lithologisch, also gesteinsbedingt angelegt. Diesen Aspekt kann man natürlich auch dahingehend auslegen, dass die eigentliche Initialformung des Balaton bereits älter und nicht explizit auf die zum Ende der Würm-Kaltzeit aufgetretenen mudflows zurückzuführen ist, deren hoch energetische Strömung und Überschwemmung dann allerdings die Mulde zusätzlich ausgenagt und geformt hätte. 

Führt man diesen Gedanken weiter, muss selbstverständlich auch überlegt werden, welche Dynamik denn zuvor schon die Landschaft in den Ebenen gestaltet hatte, unter anderem während der milderen Würm-kaltzeitlichen Phasen, den so genannten Interstadialen (kurzzeitige Warmperioden). Denn ähnliche Entwicklungen mit Muren, Schlammströmen, Schlammfluten usw. gab es zweifellos immer dann, wenn klimatische Schwankungen auch innerhalb der pleistozänen Kaltzeiten, unter anderem der Würm-Kaltzeit, zwischen einzelnen Kälteepochen auch wieder in wärmere Perioden überging, und natürlich umso mehr in den viel länger andauernden pleistozänen Warmzeiten, die sich mit den eigentlichen Kaltzeiten mehrfach abwechselten. (Nicht selten wird unser jetziges Holozän auch als "pleistozäne" Warmzeit gedeutetm, der möglicherweise auch wieder eine Kaltzeit folgen könnte.) Die im Gletschereis zwischengespeicherte Energie wurde, um Pazynychs Formulierung aufzugreifen, mit jeder Erwärmungsphase teilweise freigesetzt, was natürlich mehr als nur ein Mal zur Ablation, also zum Massenverlust der alpinen und karpatischen Gletscher und damit zu Muren, Abbruch von Gletschereis, Schnee- und Eislawinen, Schlammfluten usw. geführt haben muss. Aus dem schwankenden Klima ergaben sich also Rückkopplungen mit einer dynamischen Anpassung der Hochgebirgsgletscher; die freigewordene Energie konnte sich selbstverständlich auch dann in Muren und wassergesättigten und landschaftsgestaltenden Schlammstörmen "entladen".
 
Konkret bedeutet das: Ähnliche mudflow-Szenarien wie dasjenige, welches Pazynych für die ausgehende Würm-Kaltzeit rekonstruiert (und somit für das erdgeschichtlich definierte Ende des Pleistozäns mit Beginn des Holozäns), muss es auch während der früheren Klimaschwankungen im Eiszeitalter gegeben haben, nicht nur beim mehrfachen Wechsel zwischen den bekannten Warm- und Kaltzeiten, sondern auch innerhalb der jeweiligen Kaltzeiten, welche klimageschichtlich betrachtet natürlich niemals statische klimatische Bedingungen aufgewiesen haben. 

Unter diesem Link ist eine Animation verschiedener Forscher unter anderem von der ETH Zürich zu sehen, welche die Gletscherdynamik zur Würm-Kaltzeit rekonstruiert. Etliche Gletschervorstöße und Rückzüge im Wechselspiel sind zu erkennen. Keinerlei Statik ist ableitbar - ein steter Wandel! Was in dieser eindrucksvollen Simulation gleichwohl nicht mit einbezogen ist, das sind jene periglazialen Schlammströme, die sich aus diesen mehrfachen Masseverlusten und Rückzügen der Gletscher notwendigerweise ergeben haben und die sich mit ihren über längere oder kürzere Strecken ausdehnenden Fluten und Überschwemmungen landschaftsgestaltend ausgewirkt haben. Flüsse und Seen hätten somit ebenso stets schwankende Ausmaße gezeigt, aber für eine derartige Ergänzung der Animation fehlen sicherlich noch alle Daten und Geländeaufnahmen, gleichwohl würde das Gesamtbild der Visualisierung dadurch natürlich noch realistischer erscheinen. - Die Publikation zur dennoch spektakulären Animation ist hier einzusehen.

Geodynamisch betrachtet bedeutet das wiederum, dass es am Ende des Würm-kaltzeitlichen Abschnitts selbstverständlich bereits Vorformen aus anderen eiszeitlichen Wärmeepochen oder Warmzeiten gab. Somit könnte auch die Mulde des Balatons im Prinzip schon durch frühere Schlammfluten ausgenagt und zumindest episodisch mit Wasser befüllt gewesen sein, also neben möglichen lithologischen Ursachen. So gesehen ist die Landschaftsgeschichte, in der sich die Spuren etlicher Zeitabschnitte überlagern, wenn man sie erforschen will, natürlich auch immer ein "Fass ohne Boden".
 
 
Teil 4 - Wassermassen zwischen Finnen und Magyaren
 
Abschließend noch ein Blick darauf, wie sich aus Komponenten der Landschafts- und Umweltgeschichte auch Rückkopplungen für die Kulturgeschichte ableiten lassen: Mit geoarchäologischer Perspektive denkt Pazynych schließlich darüber nach, dass es am Ende der Würm-Kaltzeit, also etwa im ausgehenden Paläolithikum, möglicherweise - ob nun rein durch Schlammfluten oder auch aufgrund eines potenziellen Mega-Tsunamis - derartig ausgeprägte Überschwemmungen und dynamische Strömungen im Karpatenbecken gegeben hat, dass hierdurch kulturelle Aufspaltungen und Massenmigration erklärbar sind:  
"In addition to the geological results, a result was also obtained during the examination of the influence of powerful floods on people's behavior, which allowed us to make assumptions about how the common language of the Pannonian plain was divided into two languages, Finnish and Magyar. The powerful flow of the Danube and the emergence and existence of a huge lake for a long time divided people into two groups, one of which remained in its place, and the other crossed the Carpathians and settled in the north. Unfortunately, the lack of dating at that time did not allow us to determine the time of the break and the time of the formation of languages in the Stone Age. ..." (Wasyl Pazynych in seinem aktualisierten Vorwort, Quelle ist oben verlinkt)

Die gewaltige spät- und nacheiszeitliche Strömung der einst weitaus breiteren Donau sowie die Entstehung der weiträumigen Überschwemmungs- und Seenlandschaft, über sehr lange postglaziale Zeiträume hinweg, könnte - so vermutet Geomorphologe und Geoarchäologe Pazynych - dazu geführt haben, dass sich in diesem etwa jungpalöolithischen bis mesolithischen Abschnitt eine nun nordwärts wandernde Kultur der finnischen Sprachfamilie von ihren ungarischen Verwandten jenseits der gigantischen Wasserfluten und Seen abgetrennt hätte. Noch heute sieht die historische Sprachwissenschaft für die ungarische Sprache (magyarul) nur eine einzige linguistische Verwandtschaft: finnisch. 



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Wikipedia-Eintrag zu Wasyl G. Pazynych - Auszug: "... ukrainischer Geograph, Kandidat der geographischen Wissenschaften, außerordentlicher Professor an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kiew, geboren 1950 in Kiew, Abschluss an der Geographischen Fakultät der Kiewer Universität. Er arbeitete in Forschungs- und Produktionsunternehmen des ukrainischen Ministeriums für Geologie und des Ministeriums für Öl und Gas der UdSSR und führte Expeditionsarbeiten in der Ukraine, Georgien, Belarus, Polen und Kasachstan durch. Seit 1995 arbeitet er an der Kiewer Universität am Lehrstuhl für Physische Geographie und Geoökologie, seit 1999 ist er außerordentlicher Professor. Er verteidigte seine Doktorarbeit "Theoretische Studien über den Prozess der Äolischen Akkumulation" im Jahr 1995. Forschungsgebiete: Geophysik von Landschaften und natürlichen Prozessen, Einfluss physikalischer Felder auf die Entstehung und Dynamik von Landschaften, Geoinformationstechnologien und Modellierung in der Geoökologie, Nutzung von Ferninformationen, Entwicklung von Geräten zur Fernerkundung von Landschaften. Autor von 80 wissenschaftlichen Arbeiten, 1 Erfindung (Copyright-Zertifikat "Methode der Grundwassersuche"). Wichtigste Arbeiten: Geophysik des Phänomens der Äolischen Akkumulation - K., 1994. Sowie: Geschichte der Entstehung und Entwicklung des Konzepts der Dnipro-Eiszunge ..."


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Dieser Weblog-Artikel wurde geschrieben im westungarischen Hügelland von Zala und im südwestdeutschen Mittelgebirge Odenwald. |  
Michael Hahl, deutscher Geograph, geboren 1965 in Ludwigshafen am Rhein, Abschluss an der Geographischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg (Magister Artium der Geographie; mit Geologie u. Ethnologie), wirkt als Inhaber des "Geographischen Fachbüros proreg" mit Projekten im regionalen Geotourismus sowie als Sachverständiger u. fachlicher Bearbeiter für Geoökologie u. Lebensraum-/Artenschutz, zudem für Fragestellungen zukünftiger Subsistenz u. Mensch-Umwelt-Beziehung; freier Autor u. Begründer des geophilosophischen Konzepts "Bewusstseinsgeographie"; Verfasser von über 100 geo- u. umweltwissenschaftlichen, geotouristischen, umweltgeschichtlichen u. geoökologischen Publikationen u. Gutachten, über 100 Tafel-Texte für Geopfade in Natur- u. Geoparks; Exkursionen in viele Regionen Eurasiens, unter anderem in die Hochgebirge des Himalayas, der Skanden und der Alpen; derzeitige räumliche Schwerpunkte: West-Ungarn, Süd-Deutschland u.a.; weiterführende Info: www.proreg.de
 

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